Der Wecker klingelt früh. Zeit, aufzustehen um zur Schule zu gehen. Es tröstet mich ein wenig, dass ich jetzt auch aufstehen müsste, wäre ich daheim geblieben, denn die Herbstferien in NRW sind mit diesem Tag vorbei.
Ich schleppe mich rüber ins Badezimmer und lasse langsam die Lebensgeister wieder zu sich kommen. Unten erwartet mich ein Frühstück zwischen Tür und Angel und gleich darauf werden wir von David zur Schule gebracht. Obwohl Todd mit 17 alt genug für einen Führerschein ist, besitzt er keinen, sondern wird morgens vom Vater hin und nachmittags von seiner Mutter zurück gebracht.
Bis zur North Olmsted High School ist es nicht weit. Nach wenigen Minuten halten wir vor einem flachen Gebäude, das mitten auf einer großen Grünfläche steht.
North Olmsted High School
Aufgenommen am: 20.10.1997
Der Unterricht beginnt um 7:45. Eine Unterrichtsstunde dauert 50 Minuten, gefolgt von 5 Minuten Pause. Ein Schultag hat 8 Unterrichtsstunden. Der Stundenplan ist für jeden Tag gleich. Eine „große Pause“ gibt es nicht. Statt dessen gibt es eine „Unterrichtsstunde“ Study Hall, wo man 25 Minuten zu Mittag isst und 25 Minuten Hausaufgaben vorbereitet.
Heute und am Freitag werden wir mit unseren Hostschülern den Unterricht besuchen außer der 1. und der 8. Stunde. In diesen beiden treffen sich alle deutschen Schüler in einem separaten Raum, um über Erfahrungen zu sprechen, Probleme zu diskutieren und Termine abzuklären, kurz gesagt alles Organisatorische. Wir haben also noch etwas Schonfrist und ich muss nicht mit Todd in den Physikunterricht, obwohl ich den gerne gesehen hätte.
Pünktlich zur zweiten Stunde werde ich von Todd abgeholt und wir gehen rüber in die Aula. Jetzt steht nämlich Orchester auf seinem Stundenplan, wie jeden Tag um diese Zeit. Er holt seine Geige heraus und nimmt die letzte Feinabstimmung vor. Dann werden 50 Minuten lang die unterschiedlichsten klassischen Stücke gespielt, bevor es Zeit für den Französischunterricht wird.
Etwas teilnahmslos sitze ich in der Reihe hinter Todd. Obwohl ich vier Jahre Französisch hatte, verstehe ich nahezu kein Wort. War aber auch nie gut in Französisch. Es braucht auch niemand in diesem Raum erfahren, dass ich je Französisch gehabt habe.
Nach 50 Minuten läutet es, doch keiner verlässt den Platz. Statt dessen sehen nun alle zum Fernseher auf, wo nun 5 Minuten Schulprogramm läuft und über die Neuigkeiten des Tages berichtet wird. Es läutet wieder und alle rennen raus. Man hat zwischen zwei Unterrichtsstunden je 5 Minuten Zeit, durch die Schule zu seinem Spinnt zu rennen, falls man etwas für die nächste Stunde daraus braucht und wieder zum nächsten Raum zu gelangen. Todd hat da sein ganz eigenes System entwickelt. Er nimmt schon ein paar Sachen auf Vorrat mit, wenn die nächsten beiden Stunden in Räumen fernab seines Spinnt stattfinden. Andere scheinen dagegen etwas planloser zu verfahren.
Auf dem Boden vor einigen Räumen knien Schüler über zwei Heften und schreiben verzweifelt die letzten Lösungen der Hausaufgaben ab.
amerikanischer Klassenraum
Aufgenommen am: 21.10.1997
Es läutet wieder als wir im ersten Stock im Geschichtsraum ankommen. An der Wand hängt eine Weltkarte und mich wundert es, dass nicht die USA in der Mitte gezeigt wird, sondern Europa.
In dieser Stunde kann ich dem Unterricht ein wenig folgen. Es geht um den Vorstoß der Eisenbahn in den Westen und die damit verbundenen Landerwerbungen neben der Strecke. Die angrenzenden Grundstücke wurden in Quadrate in jeweils zwei Reihen unterteilt. Nun kann man sich die Felder wie auf einem Schachbrett markiert vorstellen. Verkauft man beispielsweise die weißen Felder, so sind deren Besitzer auf die Eisenbahn angewiesen, da sie bedingt durch die schwarzen Felder keine Straße zu ihren Grundstücken legen konnten. Sehr interessant.
Die 5. und 6. verbringen wir mit Chemie. Da Todd die besagte „Study Hall“ Stunde nicht belegt hat, um sich ganz der Chemie widmen zu können, lässt Mr. Basic, der Chemielehrer, alle Schüler ohne Mittagspause diese in den ersten 10 Minuten des Unterrichts erledigen. In dieser Zeit unterhält er sich ein wenig mit mir. Er will wissen, was ich daheim an der Schule für Fächer belegt habe und was ich dort so lerne. Irgendwie erinnert er mich an den Schauspieler James Hampton.
Die beiden Stunden sind sehr interessant. Es wird in etwa das Thema durchgenommen, dass auch wir derzeit in Chemie untersuchen. Später bekomme ich dann aber doch ein paar Probleme mit allzu vielen Fachbegriffen, deren Übersetzung ich nicht kenne.
Als Mr. Basic im Folgenden eine Gleichung an die Tafel schreibt, die es aufzulösen gilt und dann auch noch ohne Taschenrechner, bricht wohl eine Welt für die technikbegeisterten Amerikanern zusammen, taten sie doch nichts ohne ihren geliebten Taschenrechner. Jeder ist urplötzlich mit Abschreiben beschäftigt oder kramt in seiner Tasche. Keiner sieht sich mehr die Gleichung an, die man sogar im Kopf lösen kann. Die Antwort ist zwei, sage ich und ernte teils erleichterte, aber auch teils eifersüchtige Blicke.
Der Unterricht wird von der Schulglocke und nicht vom Lehrer beendet, man hat ja schließlich keine Zeit zu verlieren: zum Spinnt rennen, zum neuen Raum, aber das hatten wir ja schon.
In USA ist es üblich, dass die Lehrer in festen Räumen bleiben, während die Schüler ihn jede Stunde wechseln. Das hat den Vorteil, dass ein Lehrer ihn nach seinen Wünschen und Ansprüchen gestalten kann, hat aber den Nachteil, dass jede Stunde etwa 1000 Schüler auf Wanderschaft sind.
Treffen im Eagle's Room
In den Randstunden hat sich unsere Deutsche Gruppe immer in einem Seminarraum getroffen, um über Pläne und Probleme zu sprechen.
Aufgenommen am: 22.10.1997
In der 7. Stunde hätten wir eigentlich Mathe gehabt, doch die Lehrerin ist erkrankt und die Vertretung lässt die Schüler angesammelte Hausaufgaben erledigen, während sie ein Buch liest.
Die 8. und letzte Stunde verbringen wir Gastschüler wieder im Eagle’s Room, einer Art Seminarsraum, während Todd zum Englischunterricht verschwindet.
Und jeden Tag den gleichen Stundenplan, das würde mich auf die Dauer nerven. Hausaufgaben sind immer für den nächsten Tag zu erledigen, mag man ein bestimmtes Fach nicht, so muss man es doch jeden Tag ertragen. Ich stelle mir das echt grauenhaft vor. Uns wird das diese Woche wenigstens erspart bleiben. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag werden wir auf Stadtbesichtigung gehen, während die amerikanischen Schüler lernen, denn es lohnt nicht, aktiv am Unterricht teilzunehmen, da man sich in unserer kurzen Besuchszeit eh nicht in die Unterrichtsthemen vollständig einarbeiten kann.
Abzweig von der Hauptstraße
Wir befinden uns an der Ecke Butternut Ridge RD / Canterbury Road in North Olmsted.
Aufgenommen am: 23.10.1997
Um 15:05 ist die Schule aus und wieder fahren nach Hause. Nach dem Essen geht Todd auf sein Zimmer um zu lernen. Er ist sehr ehrgeizig und in der nächsten Zeit stehen einige wichtige Tests bevor. Nichtsdestotrotz gibt es eine Menge für mich zu tun, so dass von Langeweile keine Spur ist. Ich helfe Rebecca ein wenig beim Aufräumen, wobei wir uns über meinen ersten Schultag unterhalten, dann essen wir gemeinsam Kuchen und ich gehe noch einmal die Straße ein wenig rauf und runter, um einfach mal die gesamte neue Umgebung auf mich wirken zu lassen.
Am Abend holen wir aus dem Keller einige Gesellschaftsspiele nach oben. Es mag vielleicht kitschig sein, aber durch die notwendige Kommunikation bei einem Spiel wie Cluedo wird in meinen Augen der Wortschatz erheblich gefördert, wenn man versucht, seine Verdächtigungen stets anders zu formulieren: „Maybe it was the lovely Mister Green with his favourite knife in the old dusty dining room.“ „No, what would be his motive?“
Auch die Eltern spielen eifrig mit, denn es gibt heute keine Indians anzufeuern.