Dieser Tag steht heute jedem von uns zur freiesten Verfügung. Es gibt keine Pläne und vielleicht ist es auch das beste, wenn man mal einen ganzen Tag für sich verbringt, ohne auf den anderen Rücksicht nehmen zu müssen.
So verlässt Manfred relativ früh unser Zimmer und lässt mich ausschlafen. Doch soweit kommt es leider nicht, da ich durch die Feuersirene wieder aufgeweckt werde. Über den Notausgang verlasse ich halb angezogen das Hotel, doch glücklicherweise war es nur ein Fehlalarm.
Einmal aus dem Bett gekommen, nutze ich die Gelegenheit, meinen Tag zu beginnen. Ich habe beim Sortieren der Filme gestern bemerkt, dass ich etwas knapp dran bin mit dem Rohmaterial. Daher bin ich auf der Suche nach einem Fotogeschäft. An der Rezeption wird mir gesagt, dass der Supermarkt im Westvillage wahrscheinlich solche Kassetten führen würde, doch das ist etwas weiter weg. Ach, Sie haben ein Auto? Ja, dann ist das kein Problem.
Und ich dachte immer, der Durchschnittsamerikaner fährt sowieso überall mit dem Auto hin und denkt nicht im Traum daran, wie es sein könnte, ohne auszukommen.
Die Dame an der Rezeption hatte Recht, ich werde im Supermarkt fündig. Weil sie mir schon einmal so gut geholfen hat, belästige ich sie noch ein weiteres Mal, ob sie mir vielleicht verraten könnte, welcher der drei Ausdrücke am Geldautomat wohl für Abheben steht. Mit „withdrawal“ erreiche ich auch dieses Ziel.
Eingang zum Vail Village
In Vail fährt ein kostenloser Shuttlebus.
Aufgenommen am: 21.09.2002
Von nun an werde ich mich den Rest des Tages auch ohne Auto fortbewegen. Zuerst laufe ich zum Ortskern von Vail, wo ich ein wenig die Häuser des Ortes filmen möchte, doch hier wird heute das Oktoberfest gefeiert und die vielen Menschen versperren praktisch die Sicht. Das beste, was ich in diesem Moment machen kann, ist, einen großen Bogen um die Dorfmitte zu machen. Ich verlasse die Fußgängerzone über eine kleine überdachte Holzbrücke, die den Dorfbach überspannt, umrunde den Ortskern und schlendere durch den Wald in Richtung Lionshead.
Lionshead, ein kleiner Stadtteil von Vail, wird zwar mit einem kostenlosen Shuttle-Bus mit dem Hauptort verbunden, die Stille im Wald, das Rauschen des Baches, der Duft der Nadelhölzer sprechen aber für sich, so dass ich die paar Meter zu Fuß laufe.
In Lionshead wird eine Kleinausgabe des Oktoberfestes gefeiert. Hier ist wesentlich weniger los als in Vail. Vielmehr wird der Ort von Sportlern bevölkert, die sich Mountain Bikes ausleihen, um damit nach einer Gondelfahrt zum Gipfel des Berges von diesen wieder herunter zu fahren. Man sieht, die Pisten werden auch im Sommer gut ausgenutzt. Damit auch die Wanderer nicht zu kurz kommen, sind einige Wege nur für Fußgänger zugelassen, um Kollisionen zwischen den unterschiedlichen Fortbewegungsarten zu vermeiden.
Ich kaufe mir ein Ticket für die Seilbahn und folge den Höhenhungrigen zum Eagle’s Nest. Die Aussicht gestaltet sich zu beiden Seiten des Berges fantastisch. Nach Süden überblickt man nahezu unberührte Natur, Berge mit durchgehendem Baumbestand und tief verschneite Gipfel im Hintergrund. Zur anderen Seite hin ist Vail dem Blickwinkel entronnen und man kann nur die gegenüberliegende Bergkette sehen, die langsam von Schlechtwetterwolken eingehüllt wird. Es wird Zeit, sich auf den Abstieg zu machen.
Eagle's Nest, oberhalb von Vail
Im Winter machen hier Hunderte Sportbegeisterte die Skipisten unsicher.
Aufgenommen am: 21.09.2002
Zuerst heißt es mehr oder weniger querfeldein laufen, da hier kein direkter Weg, sondern nur die grobe Richtung ausgeschildert ist. Bald aber schon tauchen Namensschilder auf, die mich bis ins Tal begleiten werden: Berry Picker. So heißt der Wanderweg, der vom Eagle’s Nest sowohl nach Lionshead, als auch nach Vail hinab führt.
Unterwegs treffe ich auch einige Wanderer, die noch auf dem Weg bergauf sind und einige, die sich mit ihrem Stativ samt Kamera in die Büsche geschlagen haben, um Flora und Fauna auf Fotos zu bannen.
Dann steht da dieser alte Mann auf dem Weg und starrt in die Büsche. Als er mich bemerkt, macht er mir ein Zeichen, ich solle langsamer und ruhiger werden und deutet mit seinem Stock in die Büsche. Keine 5 Meter von uns entfernt steht ein Reh. Es hat uns scheinbar noch gar nicht bemerkt. Ab und an sieht es sich um, doch dann senkt es den Kopf wieder und frisst einfach weiter.
Bei der Weggabelung schlage ich den Weg zurück nach Lionshead ein. Da mir aber irgendwann so ganz alleine ein wenig langweilig wird, beginne ich, die verschiedensten Lieder zu singen. Ich bin stark beeindruckt, von wie vielen Titeln ich den Text auswendig kenne.
Das Wetter hat ein Einsehen und lässt mich noch im Trockenen wieder den Talboden erreichen. Nach dem Abendessen ist mir einfach noch einmal danach, eine kleine Runde durch den Ort zu drehen. Es ist still geworden. Die Bierzelte haben geschlossen und werden teilweise schon abgebaut. Die Musikkapellen sind genauso wie die Amerikaner in Lederhosen verschwunden. Zurückbleibt, was bei jedem Fest auf dem Boden liegen bleibt.